Wie gehen wir miteinander um?

Vier Formen von Respekt.

Eine Rede von Aleida Assmann, 19. Februar 2025

Zank, Streit und Gewalt beherrschen unseren Alltag, aber sie sind nicht unvermeidlich. Es gibt drei Bereiche, wo die Regeln des Zusammenlebens problemlos funktionieren. Der erste ist der Verkehr. Dieselben Regeln der Straßenverkehrsordnung gelten für alle. Die Frage: Wer hat Vorfahrt? muss nicht immer neu entschieden werden. Der dicke Mercedes muss Rücksicht nehmen auf das Mädchen auf dem Fahrrad, denn hier gilt nicht das Recht des Stärkeren und schon gar nicht das Recht des Schnelleren.

Im Sport sind nicht alle gleich, im Gegenteil möchte hier aber jede zeigen, dass sie besser, schneller, stärker oder ausdauernder ist als die andere. Aber hier gelten die Regeln der Fairness, die für alle gleich sind.

Der dritte Bereich ist die Musik. Hier geht es nicht um Wettstreit sondern um Zusammenspiel und Miteinander. Dafür muss man im Takt bleiben und die Intonation halten. Es genügt auch nicht, dass man den eigenen Part beherrscht, man muss auf einander hören.

Was macht die Demokratie aus? In diesem politischen System möchte man nicht in der Masse untergehen, sondern als einzelner Mensch wahrgenommen werden und das heißt: gehört und gesehen werden. Dieses menschliche Grundbedürfnis gilt für das Leben in der Familie genauso wie für die Schulklasse und die Gesellschaft im Ganzen.

Aber so einfach ist das nicht. Denn wer gesehen wird und wer nicht, dafür gibt es klare Ausschlussregeln. Damit hat jeder von uns seine Erfahrungen gemacht und könnte einiges erzählen. Hier mein Beispiel: ich habe einen ungewöhnlichen Vornamen. Ein Student meines Vaters, so erzählt eine Familienlegende, hatte eine Erklärung parat für diesen merkwürdigen Namen: Mein Vater habe wohl bei meiner Geburt ausgerufen: „A – leider ein Mädchen!“ Natürlich lag dieser Student völlig falsch; ich trage den Namen einer Großtante, und grade deshalb konnte in meiner Familie die Geschichte als ein guter Witz erzählt werden. Frau oder Mann, arm oder reich, mit oder ohne deutschem Stammbaum – es gehört zu unserer demokratischen Grundüberzeugung, dass jeder einzelne Mensch zählt, denn jeder/jede wünscht sich, gesehen und gehört zu werden. Man möchte mitreden, denn wer nicht mitreden darf, gehört auch nicht dazu. Die Grundrechte erhalten wir vom Staat, aber Aufmerksamkeit und Achtung erwarten wir von unseren Mitmenschen.

In der Verfassung sind unsere Grundrechte verankert, wir haben sie gerade wieder gehört. Der Begriff der Menschenwürde schwebt darüber, aber es gibt kein Menschenrecht auf Würde und auch keines auf Gesehen oder gehört werden. Hier muss die demokratische Gesellschaft selber aktiv werden. Sie muss Spielregeln dafür erfinden und durchsetzen.

Der Wunsch, als einzelner Mensch nicht übersehen zu werden, ist ein zentraler Wert in einer demokratischen Gesellschaft. Im ABC der Demokratie habe ich mir für heute ein Wort ausgesucht, das mit dem Buchstaben R beginnt: Respekt. Es kommt von re-spicere, zurückschauen, Rücksicht nehmen, und hat also viel mit Sehen und der Sichtbarkeit zu tun. Der Begriff schwankt zwischen Bewunderung und Ehrfurcht oder Furcht und tritt heute immer öfter an die Stelle von älteren Begriffen wie ‚Höflichkeit‘ oder ‚Toleranz‘. Respekt gibt es jedoch in ganz unterschiedlichen Kontexten und entsprechend ändert sich dann auch die Bedeutung. Ein Grundanliegen von mir ist die Fähigkeit zur Unterscheidung. Deshalb möchte im Folgenden vier Varianten von Respekt vorstellen und beginne mit dem

Statusrespekt.

Der setzt eine hierarchische Gesellschaftsstruktur voraus. Formen der Ungleichheit waren in der Generation unserer Eltern, und Großeltern noch selbstverständlich. Manchen Menschen schuldete man mehr Respekt als anderen. Status-Respekt wird den Oberen von den Unteren entgegengebracht: dem Landesherrn von der Bevölkerung, dem Chef von den Angestellten, den Männern von den Frauen. Den sogenannten Respektspersonen hatte man kraft ihrer Position oder ihres Amtes Achtung entgegenzubringen. In patriarchalischen Gesellschaften hatten Kinder ihren Vätern mit Respekt zu begegnen. Hier ein paar Anstandsregeln aus einem Erziehungsbuch aus dem Jahr 1910:

„Kinder sollen (…) sich nicht in die Gespräche Erwachsener mischen und offen und freundlich antworten, wenn sie gefragt werden. Immer sollen Kinder zu kleinen Dienstleistungen bereit sein, so dass es nicht nötig ist, sie erst zu allem anzutreiben.

Wenn der Vater eintritt, so hat sich der Sohn zu erheben und dem Eintretenden den Hut und Stock abzunehmen, ihm beim Ablegen des Überrocks behilflich zu sein und ihm seinen Stuhl zurechtzurücken. Immer lässt man dem Vater den Vortritt; in seiner Begleitung geht man ihm zur linken Seite. Während eines Gesprächs mit dem Vater lasse man in der Hauptsache ihm das Wort und widerspreche ihm nicht.“1

Kein Wunder, dass Franz Kafka nicht mit seinem Vater sprechen konnte, sondern ihm einen Brief schreiben musste! Schwundstufen des Status-Respekts gibt es immer noch. In Bus und Straßenbahn galt bis vor einiger Zeit die Sitte, dass Kinder und Jugendliche älteren Fahrgästen ihren Sitzplatz räumen. Der Grund dafür lag im Respekt vor dem Alter. Ich finde das sehr nett, wenn jemand für mich aufsteht, habe aber auch erlebt, dass bei manchen Menschen diese Form der Höflichkeit als „diskriminierend“ ankam – man will doch nicht als ‚alt‘ eingestuft werden!

Moderne Demokratien haben Schwierigkeiten mit dem Status-Respekt, weil er Ungleichheit zwischen Menschen schafft und verstärkt. Sie bevorzugen den

Leistungs-Respekt, denn der richtet sich auf Unterschiede, die auf individuellen Fähigkeiten beruhen. In diesem Fall zollen Menschen anderen Menschen Respekt für das, was sie jeweils selbst nicht so gut können und an anderen bewundern. Wenn Leistungsrespekt auf Gegenseitigkeit beruht, bindet er Menschen zusammen, zum Beispiel in einem Orchester. Der Leistungsrespekt wurde in Amerika erfunden. Man spricht dort vom ‚amerikanischen Traum‘. Der entwickelte sich in der demokratischen Einwanderergesellschaft, die jedem Ankömmling, egal wo er herkam, das Angebot machte, durch die eigene Leistung in der sozialen Hierarchie aufzusteigen.

An die Stelle von Rang und Status treten in den USA Reichtum und Berühmtheit als sichtbare Zeichen des Erfolgs. Donald Trump und Elon Musk sind die Ikonen dieses Leistungsrespekts. Sie haben es geschafft, in der demokratischen Gesellschaft maximalen Respekt zu erreichen.

Beim Leistungs-Respekt geht es um eine Kultur des Wettbewerbs, und damit des Überbietens und Übertreffens. Meta-Chef Mark Zuckerberg hat gerade angekündigt, dass er 5 % leistungsschwache Mitarbeiter aus seinem Unternehmen entlassen wird. Er nennt sie „low performer“. Der Leistungsrespekt fördert eine Gesellschaft der Gewinner, die Verlierer bleiben auf der Strecke. Und genau auf diese richtet sich meine dritte Form des Respekts,

der soziale Respekt.

Soziale Ungleichheit kann in einer Demokratie nicht einfach abgeschafft werden, sie drückt sich immer in einem ein Weniger oder Mehr aus. Für dieses Weniger gibt es viele sichtbare Zeichen: keine Marken-Klamotten, keine Ferienreisen, kein teures Smartphone. Der soziale Respekt hat die Aufgabe, dieses Weniger im zwischenmenschlichen Umgang auszugleichen. Er erkennt die Gleichheit aller Menschen an und stellt die Menschenwürde ins Zentrum. Auch hier ein Beispiel: der Stadt-Soziologe Richard Sennett schrieb ein Buch mit dem Titel: Respekt in einer Welt der Ungleichheit.2 In diesem Buch hat er seiner Mutter ein Denkmal gesetzt, die als alleinstehende weiße Sozialarbeiterin in einem schwarzen Armenviertel von Chicago gearbeitet hat. Ihr Sozialrespekt entsprach einer Achtung aus dem Geist der Menschenwürde. Sennet zitiert einen Satz der Ehefrau aus Arthur Millers Drama Tod eines Handlungsreisenden, der auch die Haltung seiner Mutter zusammenfasst:

„Willie Lowman hat nicht viel Geld verdient. Sein Name war nie in der Zeitung. Er ist nicht der beste Typ, der je gelebt hat. Aber er ist ein Mensch, dem gerade etwas Schlimmes widerfährt. Er verdient Achtung. Er soll nicht in sein Grab fallen wie ein alter Hund. Er hat Achtung verdient.“ 3

Der soziale Respekt ignoriert trennende Merkmale wie Rasse, körperliche Behinderung und Gebrechen, Bildungsdefizite oder Misserfolge, an denen sich Formen der Ausgrenzung festmachen können. Sozialer Respekt bedeutet Achtung der Menschenwürde und ist das Gegenteil der Diskriminierung und Entwertung anderer Menschen.

Der soziale Respekt hatte seinen Höhepunkt in der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA der 1950er und 1960er Jahren. Damals ging es vorrangig um politische Gleichheit und soziale Integration, d. h. um die Beseitigung von Chancenungleichheit, Repressionen, Statusdifferenzen, also um die Diskriminierung unterdrückter Minderheiten. Seit den 1980er und 90er Jahren ist aber noch eine neue Form von Respekt hinzugekommen:

der kulturelle Respekt.

Der Kontext dieser neuen Form von Respekt ist die Dekolonisierung. Das ist ein politisches Programm, dessen Forderung darin besteht, aus dem Machtgefälle herauszutreten, das rassistische Regime wie Sklaverei und Kolonialismus hervorgebracht haben. Die Globalisierung hat lange Zeit Handel und Wirtschaft beflügelt, die Kehrseite dieser Grenzüberschreitung nehmen wir heute in Form von Kriegen und Krisen wahr, die Menschen in allen Erdteilen in Bewegung versetzen. Das Klassenzimmer ist heute ein Spiegel der diversen Gesellschaft, die Menschen unterschiedlicher Herkunft auf engem Raum zusammengeführt hat.

Für diese Form der Gesellschaft gibt es eine neue Form des Respekts. Beim sozialen Respekt ging es um ein Ignorieren von Differenz; d.h.: alle trennenden Merkmale galt es im Sinne der Nicht-Diskriminierung zu übersehen. Beim kulturellen Respekt geht es nun um das genaue Gegenteil, nämlich um die Bejahung und Anerkennung von Differenz und Fremdheit. Verschiedenheit und Pluralität sind zu einem zentralen Wert in der demokratischen Gesellschaft geworden. Jeder Mensch ist ein Individuum, aber inzwischen werden auch die Unterschiede von Geschlecht, Herkunft, Religion, Kultur und Lebensformen als zentraler Teil der Identität anerkannt und aufgewertet. Natürlich verdienen in unserer Demokratie nicht alle kulturellen Unterschiede Respekt; die Voraussetzung ist, dass sie auf dem Boden unserer Verfassung stehen und mit dem Wert der Menschenwürde vereinbar sind.

Mein langer Anlauf hat uns zu dieser Form des kulturellen Respekts geführt, der eine besondere Bedeutung für unsere Gesellschaft hat, in der jeder Vierte eine andere Herkunftsgeschichte hat. Kultureller Respekt spielt gerade auch an den Schulen, in der Jugendkultur und in der Fußball-Bundesliga eine große Rolle. Jede Form von Respekt setzt Unterschiede voraus und ist eine Form, mit ihnen umzugehen. Kultureller Respekt zielt auf eine nicht-stigmatisierende und nicht-diskriminierende Gesellschaft, in der alle Menschen gleiche Chancen der Teilhabe und Anerkennung erfahren und sich dabei als gesehen, gehört, geachtet, gewürdigt und anerkannt fühlen dürfen.

Soweit meine Unterscheidungen zum Begriff des Respekts. Ich schließe mit 3 Stimmen zum Thema Respekt und Diversität.

Die erste Stimme ist die von Ignaz Heinrich Freiherr von Wessenberg, ehemaliger Bürgermeister dieser Stadt, genialer Aufklärer, Menschenfreund und Anwalt des Respekts. Ich zitiere eine der 13 Strophen seines persönlichen Glaubensbekenntnisses von 1839:

So will ich denn mit regem Eifer üben,

was ich für Wahrheit und für Recht erkannt,

Will brüderlich die Menschen alle lieben,

Am Belt, am Hudson, und am Ganges-Strand.

Die zweite Stimme ist die von Alice Salomon, einer begnadeten jüdischen Sozialpädagogin, die als erste Frau an der Berliner Universität promovierte – mit einer Arbeit über die Ungleichbezahlung von Männern und Frauen! Die folgenden Sätze schrieb sie kurz bevor sie in den 1930er Jahren aus Deutschland auswandern musste: „Wir lernen ja nicht da, wo wir feststellen, dass andere alles ebenso macht wie wir, sondern wir lernen, wenn er es anders macht. Denn das allein führt uns zur Selbstbesinnung, zur Selbstkritik und daraus erwächst lebendiges Leben, lebendiger Geist, lebendige Formkraft“. 4

Die dritte Stimme ist die der Popsängerin Katharina Frank. Sie hat am letzten Sonntag im Deutschlandfunk über Deutschland nachgedacht. Ich gebe hier weiter, was sie uns mitgeteilt hat:

„Ich würde mir wünschen, dass Deutschland seine Angst vor Veränderungen verliert,

Diversität zuzulassen, an sich ranzulassen (vermag),

und eine Liebe und einen Respekt für diese Veränderungen entwickelt,

die stattfinden.

Und ich wünsche mir auch, dass (die Menschen in der Gesellschaft) die eigene Diversität erkennen,

dass Deutschland nicht eine Masse ist, die hinter einer Fahne herläuft,

sondern dass wir alle komplett unterschiedlich sind

und dass wir im Grunde nur immer voneinander lernen können.“

1 Marcus Porcius Cato <Censorius>, Wie soll ich mich benehmen? Ein Buch über den guten Ton, (Miniatur-Bibliothek Bde 140-142), Leipzig: Verlag für Kunst und Wissenschaft, o. J. (ca. 1910), S. 49-50.!

2 Richard Sennett, Respect in a World of Inequality, New York 2005.

3 Arthur Miller, Death of a Salesman, Act 1. Vgl. zum Thema Sozial-Respekt als ethische Aufmerksamkeit: Friedrich F. Bresina, Die Achtung. Ethik und Moral der Achtung und Unterwerfung bei Immanel Kant, Ernst Tugendhat, Ursula Wolf und Peter Singer, Frankfurt 1999.

4 Alice Salomon, Charakter ist Schicksal, 1932, S. 804.

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