Herzlich Willkommen zum Gedenken an die Opfer rechtsradikaler Gewalt.
Vor 55 Jahren, am 29. August 1970, war der 17-jährige Konstanzer Auszubildende Martin Katschker hier am Blätzlebrunnen. Seit Dienstende in seiner Kreuzlinger Tankstelle am Nachmittag hielt er sich mit zwei Freunden hier auf. Sie unterhielten sich und hörten Musik. Eigentlich ein Abend wie viele, in diesem Sommer 1970. Es war ein Samstagabend im Spätsommer. Gemäß der Wetteraufzeichnungen des Deutschen Wetterdienstes war es ein gewittrig-schwüler Sommerabend bei rund 22 Grad.
Die drei Freunde saßen auf der Rückenlehne einer Parkbank, und außer ein paar flüchtigen Pöbeleien von Vorbeigehenden war nichts passiert. In diesen Minuten, genau vor 55 Jahren, um Viertel nach Sieben, schien hier noch alles friedlich.
Der Blätzlebrunnen und der ganze Bereich Blätzle- und Augustinerplatz waren damals ein beliebter Jugendtreff in der Konstanzer Innenstadt. Die Freifläche neben dem 1963 neu erbauten Hertie-Kaufhaus galt als Treffpunkt der Hippie-Jugendkultur. Dabei handelte es sich auch in Konstanz um Jugendliche, die sich gegen die Werte und Normen einer noch stark von den Nazis geprägten Gesellschaft stellten. Konstanz war 1970 noch stockkonservativ, und eine gesellschaftliche Liberalisierung der Stadt begann erst nach und nach mit dem Betrieb der Universität am heutigen Standort am Gießberg ab 1973.
An diesem Abend lagen aber nicht nur gewittrige Spannungen in der Luft. In der Stadt rumorte es schon seit Wochen. Die Hetze gegen die sogenannten „Gammler“ kam von rechts und ganz rechts. Als „Gammler“ (abgeleitet von „gammeln“) wurde abwertend die jugendliche Subkultur der Hippies bezeichnet. Ihnen wurde vorgeworfen, lange Haare, Parka, Bluejeans oder auffällig bunte Kleidung zu tragen und mit sichtbarem „Nichtstun“ die Bürgerschaft zu provozieren.
Der Konstanzer NPD-Vorsitzende Walter Eyermann befeuerte eine Hetzkampagne gegen „Gammler“. Er wollte in der Stadt gegen – Zitat – „asoziales Gesindel“ eine Bürgerwehr von 40 Mann aufstellen, die für „Recht und Ordnung“ sorgen und Hippies aus der Stadt vertreiben sollte. Im Gemeinderat sagte Oberbürgermeister Bruno Helmle: „Wenn Sie das machen, Herr Eyermann, bin ich einverstanden.“
Eine der wenigen Gegenreden kam vom damaligen DGB-Kreisvorsitzenden und SPD-Gemeinderat Erwin Reisacher: „Die Formulierung des Oberbürgermeisters kann nicht anders denn als Aufforderung zur Bildung einer Bürgerwehr mit Lynchjustiz verstanden werden. In den Händen des Führers der NPD (gemeint war Walter Eyermann) wird diese gesetzlose Einrichtung zu einem unerträglichen und gefährlichen Instrument.“
Wie sich im Verlauf dieses Abends zeigen sollte, war seine Einschätzung mehr als präzise.
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Viele Statistiken zu rechtsradikaler Gewalt in Nachkriegs-Deutschland beginnen tatsächlich 1970, und einer der ersten gelisteten Morde ist der an Martin Katschker, hier am Blätzlebrunnen.
Wir wissen heute, dass Rechtsradikale Todeslisten zur Ermordung von politischen Gegner:innen längst geschrieben haben. Spätestens seit dem Mordanschlag auf den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juni 2019 wissen wir auch, dass sie nicht davor zurückschrecken, politische Morde durchzuführen.
Wir wissen, dass die AfD im Landkreis Konstanz enge Verbindungen zu Gruppen wie der Identitären Bewegung, dem III. Weg, der Jungen Tat oder zu rechtsterroristischen Reichsbürgern hat. Zum Teil arbeiten diese gewaltbereiten rechtsrevolutionären Akteure in Reihen der AfD.
Die AfD ist Teil dieser Strukturen. Das muss auch in der Politik ankommen und dringend in einem AfD-Verbotsverfahren münden. Es muss uns allen klar sein: Wer AfD wählt, wählt rechte Gewalt. „Wir haben es nicht gewusst“ taugt später nicht zur Ausrede. Wir wissen es.
Die Amadeu Antonio Stiftung beklagte unlängst, dass in Deutschland statistisch alle zwölf Minuten eine rechtsradikale Straftat begangen wird. So viele wie noch nie zuvor. Seit 1990 zählte die Stiftung über 220 Tötungsdelikte durch rechtsradikale Gewalt. Wir dürfen nicht verschweigen, dass einige Morde auch von institutionellem Rassismus begünstigt oder verursacht wurden. Wir erinnern an den Mord an Oury Jalloh, der 2005 in einer Polizeizelle in Dessau verbrannte. Wir erinnern an die skandalösen Ermittlungen und Gerichtsurteile dazu, die nicht schweigend hingenommen werden dürfen!
In unserer kollektiven Erinnerung bleiben jedoch vor allem die großen Fanale rechtsradikaler Gewalt:
- Rechtsterroristischer Anschlag auf das Münchner Oktoberfest am 26. September 1980: 13 Morde, 68 Schwerverletzte.
- Mordanschlag auf Wohnhäuser zweier türkischer Familien vom 23. November 1992 in Mölln: 3 Morde, neun Schwerverletzte.
- Brandanschlag in Solingen auf ein Zweifamilienhaus mit Menschen türkischer Abstammung am 29. Mai 1993: 5 Morde, 17 Schwerverletzte.
- Brandanschlag auf ein Haus von Asylbewerbern am 18. Januar 1996 in Lübeck: 10 Morde, 38 Verletzte.
- Mordserie des rechtsterroristischen NSU zwischen den Jahren 2000 und 2007: 10 Morde, 43 Mordversuche.
- Rassistisch motivierter Brandanschlag auf ein Haus mit Menschen türkischer Herkunft am 3. Februar 2008 in Ludwigshafen am Rhein: 9 Morde, 60 Verletzte.
- Nach einem gescheiterten Anschlag auf die Synagoge von Halle erschießt am 9. Oktober 2019 der Täter wahllos Opfer auf der Straße und in einem Döner-Imbiss: 2 Morde, 2 Schwerverletzte, 68 Mordversuche.
- Rechtsterroristischer Anschlag auf aus Rassismus ausgewählte Opfer an zwei Tatorten in Hanau vom 19. Februar 2020: 9 Morde, ein von einer Kugel in den Hals Getroffener überlebte schwerverletzt.
Hören wir in Gedenken an den Anschlag in Hanau das Gedicht „Du wirst im Februar frieren“.
Solange wir nicht begreifen, dass diese Namen aus der Mitte unserer Gesellschaft gerissen werden, dass jede und jeder Einzelne Teil von uns selbst sind, solange machen wir es dem völkischen Mob leicht.
Wir sind EINE Gesellschaft. Unter meinen Liebsten und Freundinnen und Freunden sind viele, die diese oder ähnliche Namen tragen.
Jede und jeder, die oder der hier lebt, sich einbringt und liebt, ist Teil von uns allen. Wer einzelne angreift, greift unser Leben, unsere Zukunft, unsere Demokratie an.
Wenn sie einen Teil von uns vertreiben, „remigrieren“ oder umbringen, dann haben die AfD und andere Nazis das erreicht, was sie wollen: eine andere Gesellschaft, eine staatliche Ordnung ohne demokratische Institutionen und Parlamente. Das können wir nur gemeinsam und aktiv verhindern.
1970 passte Martin Katschker nicht in das ideologische Weltbild der NPD und – schauen wir genau hin – nicht in das Weltbild weiter Teile der Konstanzer Stadtgesellschaft. Weil er zu denen gehörte, die als Mann längere Haare trugen und sich, wie seine Freundinnen und Freunde, anders kleidete und Pop- und Rockmusik hörte.
Heute ist das nicht mehr nachvollziehbar. Lange Haare, Jeans und Pop- und Rockmusik gehören längst zur gesellschaftlichen Realität. Es wird längst nicht mehr als empörend oder als Bedrohung empfunden.
Heute passen beispielsweise dunkle Haare und Augen, Symbole anderer Religionen oder eine vielseitige sexuelle Orientierung nicht in das beschränkte völkische Weltbild von Nazis und deren Mitläufer:innen und Nachplappernden. Manche Menschen macht das Anderssein wütend oder es macht ihnen Angst.
Die Muster sind immer dieselben: Alles, das Rechtsradikalen an Menschen nicht passt, gehört für sie nicht zu unserer Gesellschaft. Da irren sie aber gewaltig! Die Realität hat sie auch hier längst eingeholt.
Wir alle sind Gesellschaft. Wir alle sind Deutschland. Egal, was Nazis sich als Volksgemeinschaft zusammenspinnen. Auch mit Gewalt werden sie sich nicht gegen uns durchsetzen.
Wir erinnern heute auch an rechtsradikale Gewalt, die es im Bodenseekreis und im Landkreis Konstanz gab: Beispielsweise wurde am 24. Oktober 1992 der KZ-Friedhof an der Birnau von Rechtsradikalen zerstört.
Den Anschlag verübten drei Täter aus der Region, die später auch wegen Anschlägen auf den jüdischen Friedhof von Wangen und auf eine Flüchtlingsunterkunft in Singen verurteilt wurden. Dort wurde nur durch Zufall niemand verletzt oder getötet.
Wir erinnern an den Brandanschlag auf das türkische Restaurant „Eumel“ am 5. Juni 1993, unweit von hier in der Hüetlinstraße. Das Restaurant brannte völlig aus. Auch damals war es nur Zufall, dass in der Nacht niemand im Haus verletzt oder getötet wurde. Damals wurde ergebnislos gegen einen Feuerwehrmann ermittelt. Die Täter wurden hingegen nie gefasst.
Leider gibt es immer wieder auch Fälle von institutionellem Rassismus, oder Behörden schauen nicht selten bei rechtsradikaler Gewalt weg oder ermitteln wie blind in andere Richtungen.
Auch daran müssen wir heute erinnern. Auch der Mörder von Martin Katschker wurde mit aller Milde der Justiz behandelt und zu drei Jahren Haft verurteilt. Nicht wegen Mordes, nicht wegen Totschlags, sondern wegen „fahrlässiger Tötung“. Angesichts der Tatsache, dass er einen Hasentöter mitbrachte, ihn dem Opfer auf die Brust setzte und drohte: „Ich bin von der Bürgerwehr … es passiert was“, ist das Urteil ein schlechter Witz und eine Schande.
Wir erinnern und betrauern heute alle Opfer von rechtsradikaler Gewalt. Wir erinnern uns, wie gefährlich und barbarisch Faschismus ist. Der Holocaust ist eine Mordmaschine aus Deutschland. Vergessen wir das nie.
Wir erinnern heute an den Mord von Martin Katschker, der in diesen Minuten vor 55 Jahren geschah. Sein Mörder, der 38-jährige Konstanzer Druckereihilfsarbeiter Hans Obser, war schon auf dem Weg hierher. Obser hatte über 2 Promille Alkohol im Blut. Er war mit seinem zehnjährigen Sohn unterwegs, weil er sich, wie er nach der Tat angab, „über die Gammler ärgert“.
Mit diesem Ärger war er nicht allein in Konstanz. Anfang August gab es auf „Klein Venedig“ ein Pop- und Rockkonzert, an dem rund 10.000 junge Menschen teilnahmen. Die Stadt stelle dafür keine Infrastruktur zur Verfügung. Viele der Besucher:innen schliefen rund um den Blätzlebrunnen und im Stadtgarten. Die Stadtwerke und die Polizei vertrieben die jungen Menschen am Morgen mit Wasserschläuchen.
Die NPD heizte die Stimmung danach mit einem Flugblatt gegen „Gammler“ und für ihre Bürgerwehr auf. Der Südkurier beteiligte sich an der Stimmungsmache gegen „Gammler“. Eine kontroverse öffentliche Diskussion zum Thema fand nicht statt.
Als sein Mörder gegen 19:30 Uhr den Platz betrat, ahnte Martin Katschker nicht, dass er in einer halben Stunde tot sein würde. Hans Obser kannte sein Opfer nicht. Das er in seinen Augen „ein Gammler“ war, genügte, um über sein Leben zu richten. Wozu, wenn nicht in voller Tötungsabsicht, führte Obser einen Hasentöter mit sich? Ein Bolzenschussgerät, um Kleintiere zu töten.
Seinen Sohn an der Hand, betrat er den Platz, und dann ging alles sehr schnell. Er trat auf die Bank zu, auf der Martin Katschker und seine Freunde saßen, und rief: „Ich bin von der Bürgerwehr und zähle bis drei, dann seid ihr verschwunden – oder es passiert was.“
Im nächsten Augenblick setzte er Martin Katschker den entsicherten Hasentöter schon auf die Brust. Sein Sohn wollte den wütenden Vater wegziehen. Doch Obser löste den Bolzen aus und erschoss Martin Katschker vor den Augen seines eigenen Kindes.
In der Gerichtsverhandlung wird dieser selbsternannte „Herrenmensch“ noch mehr Schuld auf sein Kind abladen und behaupten, dadurch, dass sein Sohn ihn wegziehen wollte, habe sich der Schuss erst gelöst.
Martin Katschker fuhr der Bolzen direkt ins Herz und er sackte zusammen. Er starb eine halbe Stunde später im Krankenhaus.
Während wir nun Blumen für ihn niederlegen, bitte ich um eine stille Gedenkminute für den 17-jährigen Martin.
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Wir wollen Sie jedoch nicht mit diesem Gefühl von diesem Ort gehen lassen. Wir können davon ausgehen, dass Martin Katschker und seine Freunde an diesem Nachmittag und Abend hier den Nummer-eins-Hit der Single-Chats vom 29. August 1970 gehört haben: Mungo Jerry – In the sommertime.
Bevor das Lied beginnt, möchte ich Ihnen die letzten Textzeilen auf Deutsch vorlesen, weil sie auf tragische Weise zur Tat und dem Tod Martins passen:
„Wir sind keine schlechten Leute,
wir sind nicht schmutzig, wir sind nicht gemein.
Wir lieben alle, aber wir tun was wir wollen.
Wenn das Wetter schön ist,
gehen wir ans Meer, um zu fischen oder zu schwimmen.
Wir sind immer glücklich.
Leben ist zum Leben, yeah,
das ist unsere Philosophie.“
Vielleicht sehen wir uns nächstes Jahr wieder hier. Ich sage Ihnen im Namen des Veranstalters „Bündnis Konstanz für Demokratie – klare Kante gegen rechts in Stadt und Landkreis“ vielen Dank. Die Kundgebung ist hiermit beendet.






